Im Jahr 1884 wurde im englischen Exeter ein Fall verhandelt, der weltweite Aufmerksamkeit auf sich zog. Angeklagt waren drei Seeleute, und obwohl sie offen darüber sprachen, was sie getan hatten, waren sie sich keiner Schuld bewusst.
Was sie getan hatten, ist unter den Umständen der Tat völlig verständlich und galt bis dahin auch nicht als Verbrechen – umso verblüffter waren sie, sich vor Gericht wiederzufinden.
Im Jahr 1883 hatte ein australischer Rechtsanwalt in England die Yacht „Mignonette“ gekauft und wollte sein neues Schiff nun zu sich bringen lassen. Dazu musste die Yacht eine weltumspannende Reise von insgesamt etwa 24.100 km hinter sich bringen und brauchte für dieses Unternehmen natürlich eine eigene Besatzung.
Eine solche wurde auch zusammengesucht, und am 19. Mai 1884 schließlich verließ die „Mignonette“ den Hafen von Southampton in Südengland. An Bord befanden sich dabei nur vier Besatzungsmitglieder: der Kapitän Tom Dudley, Edwin Stephens, Edmund Brooks und der 17-jährige Kabinenjunge Richard Parker.
Die Reise verlief gut, bis das Glück die Mannschaft im Stich ließ: Am 5. Juli 1884 geriet das kleine Schiff vor dem Kap der Guten Hoffnung in Südafrika plötzlich in Seenot. Winde und tosende Wellen setzten ihm so sehr zu, dass es schnell stark beschädigt wurde. Kapitän Dudley sah, dass die „Mignonette“ nicht zu retten war, und befahl seinen Leuten, sich in das Rettungsboot zu flüchten.
Die Männer schafften es in der Eile zwar noch, ihre Navigationsinstrumente in das nur 4 Meter lange Rettungsboot mitzunehmen, aber an Proviant hatten sie nur zwei Dosen Rüben dabei. Noch viel schlimmer: Sie hatten kein Trinkwasser.
Jetzt begann für die vier Männer eine bange Zeit des Ausharrens. Sie sahen kein Land und konnten sich kaum eigenständig fortbewegen. Nach zwei Tagen wurde die erste Dose Rüben geöffnet und der spärliche Inhalt verteilt. Am 9. Juli gelang es den Seemännern, eine Schildkröte an Bord zu ziehen, und jeder von ihnen hatte für eine kurze Weile etwas zu essen.
Sie aßen alles auf, was sich an dem Tier verzehren ließ, aber es reichte immer noch nicht. Inzwischen hatten sie in ihrer Not begonnen, ihren eigenen Urin zu trinken. Der Jüngste unter ihnen, Richard Parker, hatte auch immer wieder versucht, seinen Durst mit Meerwasser zu stillen – ein schlimmer Fehler.
Richard wurde vom Hunger und dem Salzwasser schnell krank und immer schwächer. Der Hunger ließ in den Männern einen furchtbaren Gedanken aufkommen, den sie nicht mehr abschütteln konnten. Was, wenn nur einer von ihnen sterben müsste, damit die anderen überleben könnten?
Schließlich sprach Kapitän Dudley aus, was die anderen bereits dachten, und schlug vor, man solle Lose ziehen, um zu entscheiden, wer von ihnen sich opfern sollte. Doch Brooks lehnte dies ab. Als am nächsten Tag immer noch keine Rettung in Sicht war, waren Dudley und Stephens sich einig, dass Richard ohnehin sterben würde und damit die logische Wahl wäre – doch bis zu seinem natürlichen Tod wollten sie nicht mehr abwarten.
Brooks stimmte weder zu, noch erhob er Einspruch, als Stephen den Jungen festhielt und Kapitän Dudley ihn mit einem Messerstich in den Hals umbrachte. Er und Dudley aßen jedoch reichlich von der grausigen Nahrung, die ihnen nun zur Verfügung stand. Stephens dagegen brachte kaum etwas hinunter.
Inzwischen hatten sie genug Regenwasser auffangen können, um bis zum 29. Juli überleben zu können – dem Tag, an dem endlich ein Schiff vorbeikam, das auf das winzige Boot aufmerksam wurde und die drei Männer rettete. Da Verzweiflungstaten wie die ihre auf See nicht ungewöhnlich waren, erzählten sie von Anfang an bereitwillig, was sie getan hatten.
Die verbliebenen Überreste Richard Parkers wurden bestattet.
Doch zurück in England, wurde ihnen ihre Tat noch zum Verhängnis. Dass Dudley den wehrlosen jungen Richard ohne eine Losentscheidung getötet hatte, brachte die Männer wegen Mordes vor Gericht.
Dudley und Stephens wurden des Mordes schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt, Brooks war an der Tötung nicht beteiligt gewesen und trat zudem als Zeuge gegen seine früheren Kameraden auf – er wurde freigesprochen. Der Fall hatte riesige Aufmerksamkeit erregt und die drei Männer erfuhren starkes Mitgefühl von Seiten der Bevölkerung, was dazu führte, dass die Todesstrafen in nur sechs Monate dauernde Haftstrafen umgewandelt wurden. Es ging vor allem darum, ein Zeichen zu setzen, dass auch auf See keine rechtsfreie Zone herrschen durfte.
Unter Juristen ist das Strafverfahren „R v Dudley and Stephens“ bis heute bekannt und gilt als Beispiel für entschuldbare Notstände und den Wert eines Menschenlebens in Extremsituationen.