Es gibt immer wieder erschütternde Kriminalfälle, auf die sich die Maßstäbe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Strafe, Schwarz und Weiß nicht so einfach anwenden lassen wie z.B. auf einen Überfall oder einen Einbruch. Manchmal sind die Zusammenhänge eines Verbrechens komplexer, die Hintergründe emotionaler und die Beurteilung im strafrechtlichen Sinne äußerst kompliziert. In diese Kategorie fällt wohl auch die Tat der Spanierin María del Carmen García, die am 13. Juni 2005 in einem kurzen Moment der Wut, Verzweiflung und Raserei den Tod eines Menschen herbeiführte. Doch ohne eine nicht minder tragische Vorgeschichte wäre es dazu nie gekommen.
Das Unheil nahm im Jahr 1998 in dem kleinen spanischen Ort Benejúzar in der Provinz Alicante seinen Lauf, als Marías 13-jährige Tochter eines Morgens Brot kaufen sollte. Auf dem Weg zur Bäckerei traf die Heranwachsende auf den 62-jährigen Antonio Cosme Velasco, der sie mit einem Taschenmesser bedrohte. Er drückte die Klinge an ihren Hals und zerrte sie hinter ein Gebüsch, wo sie unbeobachtet waren. Dort warf er sie zu Boden, riss ihr die Kleider vom Leib, hielt sie fest und vergewaltigte sie.
Nachdem dieses Verbrechen ans Licht gekommen war, fühlte sich María schuldig – hätte sie ihre Tochter an jenem Morgen nicht zum Bäcker geschickt, wäre nichts geschehen. Sie erkrankte an Depressionen und Ärzte diagnostizierten bei ihr eine Anpassungsstörung, weshalb sie sich noch im Jahr der Vergewaltigung ihrer Tochter in psychiatrische Behandlung begab.
Außerdem litten María und ihre Familie darunter, dass viele Menschen in Benejúzar auf der Seite von Antonio standen, weil er ein durchaus beliebter Zeitgenosse war. Hinzu kam, dass María ursprünglich aus einem anderen Ort stammte, also eine „Zugezogene“ war, und außerdem ließ eine erste medizinische Untersuchung Zweifel daran aufkommen, ob die damals 13-Jährige die Wahrheit gesagt hatte. Die Familie musste in jener Zeit viele Feindseligkeiten und Drohungen über sich ergehen lassen.
Nachdem dann aber doch noch Spuren seiner DNS an dem Mädchen und ihrer Kleidung gefunden worden waren, die Kleine also keineswegs gelogen hatte, wurde Antonio zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte bis zum Jahr 2005 sechs Jahre im Gefängnis verbracht, bis ihm für einige Tage Ausgang gewährt wurde. Er fuhr in diesen Tagen wieder in seinen Heimatort Benejúzar, wo ihm doch ausgerechnet María über den Weg lief. Er soll sie mit der Frage begrüßt haben: „Guten Tag, Frau García, wie geht es Ihrer Tochter?“ Dann ging er in eine Bar.
María war außer sich. Niemand hatte sie benachrichtigt, dass Antonio das Gefängnis für begrenzte Zeit verlassen durfte. Aufgrund vorangegangener Drohungen aus dem familiären Umfeld des Vergewaltigers – man würde ihr oder ihrer Tochter die Kehle durchschneiden, sobald Antonio aus dem Gefängnis käme – überschlugen sich Marías Gefühle. In ihr brodelte es. Sie wurde von Angst und Zorn ergriffen. Sie war überzeugt, dass er ihre Tochter töten würde. María lief schnurstracks in eine Tankstelle und kaufte eine Flasche voll Benzin. Dann stürmte sie in die Bar, in der Antonio sich aufhielt, begoss ihn mit dem Treibstoff und warf ein brennendes Streichholz nach ihm.
Der 69 Jahre alte Mann erlitt sehr schwere Verbrennungen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo er zehn Tage später aufgrund seiner Verletzungen starb. María wurde festgenommen und verbrachte ein Jahr in Untersuchungshaft. Sie wurde zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt, jedoch reduzierte das Gericht später die Strafe wegen geistiger Verwirrung auf fünfeinhalb Jahre.
In der Zwischenzeit kämpften viele, vor allem feministische, Organisationen dafür, dass María nicht länger im Gefängnis bleiben müsse. Sie galt als spanische „Mutter Courage“ und gewann viel Sympathie in der Öffentlichkeit. Es wurden tausende Unterschriften gesammelt, dreimal eine Begnadigung ersucht, jedoch konnte kein Straferlass erwirkt werden. 2014 trat sie ihre Haft an und lebte von da an hinter Gittern, bis vor Kurzem die Justiz mit einer unvorhergesehenen Maßnahme überraschte.
Facebook/Sunshine FM Costa Blanca
Dank einer Änderung ihres Status als Gefangene darf María schon jetzt das Gefängnis täglich für mehrere Stunden verlassen. Mitte 2018 wird es so weit sein, dass sie ihre Strafe vollends verbüßt hat. Dann wird die mittlerweile 65-Jährige eine Rentnerin sein und vielleicht ihre letzten Jahre mit ihrer Familie verbringen können. Diese war ihr während ihrer Haft eine große Unterstützung. Im Gegenzug braucht nun vor allem ihr krebskranker Mann Unterstützung von ihr.
Facebook/Mamarrachas – espacio de difusión feminista
Hoffentlich können María und ihre Familie ebenso wie die Familie von Antonio letzten Endes doch noch mit der Tragödie abschließen, die vor fast zwanzig Jahren begann und ihren traurigen Höhepunkt an jenem 13. Juni 2005 fand, als sie mit einer Flasche voller Benzin in eine Bar stürzte.