Wenn ein kleines Kind das Opfer eines Unglücks oder gar eines Verbrechens wird, dann ist das schrecklich genug. Wenn dann die Aufklärung des Geschehenen auch noch von menschlichem Versagen geprägt ist, dann kann es für alle Menschen im Umkreis sogar noch schlimmer kommen.
Am 16. August 1998 geschah in der schwedischen Kleinstadt Arvika etwas Furchtbares: Der 4-jährige Kevin Hjalmarsson, der draußen in der Sommersonne gespielt hatte, war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
Seine Familie war zwar besorgt, geriet aber nicht in Panik, da Kevin immer herumlief, um mit den Nachbarskindern zu spielen. Sie dachten, der kleine Junge habe dabei einfach die Zeit vergessen. Seine Eltern und Großeltern suchten die Umgebung ab, bis der Großvater die schreckliche Entdeckung machte: Kevins lebloser Körper lag auf dem Steg des nahegelegenen Glafsfjorden-Sees.
Die spätere Untersuchung ergab, dass der kleine Junge mehrere Blutergüsse erlitten hatte. Dann war ein Ast auf seinen Hals gedrückt worden, bis er nicht mehr atmen konnte und erstickte.
Die Polizei befragte sämtliche Kinder der Stadt, ob sie an dem Tag von Kevins Tod etwas bemerkt hätten, was ihr bei der Aufklärung weiterhelfen könne. Doch bald begann sie, sich besonders auf zwei Brüder zu konzentrieren: den 5-jährigen Robin und den 7-jährigen Christian.
Ende Oktober 1998 gab die Polizei dann eine schockierende Erklärung ab: Sie hielten es für erwiesen, dass Christian und Robin Kevin getötet hätten. Die Kinder hätten die Tat zugegeben und dabei keinerlei Reue gezeigt.
Das ganze Land war entsetzt. Erst fünf Jahre zuvor hatte es in England einen ähnlich schrecklichen Fall gegeben, bei dem zwei 10-jährige Jungen einen 2-Jährigen entführt und ermordet hatten. Dieses grässliche Verbrechen war im öffentlichen Gedächtnis noch allzu präsent und machte viele Menschen leicht glauben, dass eine solch sinnlose Grausamkeit auch jetzt wieder möglich sein konnte.
Da die beiden Kinder jünger als 15 Jahre alt waren, waren sie nach schwedischem Recht nicht strafmündig. Das hieß aber auch, dass sie nicht vor Gericht gestellt werden konnten – somit folgte ihren Geständnissen auch keine weitere Beweisaufnahme.
Die Brüder wurden zunächst in einem Heim untergebracht, wo man später nach einer Pflegefamilie für einen der beiden suchte. Doch vergeblich: Keine einzige Familie im ganzen Land wollte ihn aufnehmen.
Schließlich durften sie zu ihren Eltern zurückkehren, aber ihr Leben und das ihrer Familie war für immer erschüttert. Alle kannten ihre Namen und jeder wusste, was sie angeblich getan hatten.
Fast 20 Jahre später, im April 2017, griffen die große schwedische Zeitung „Dagens Nyheter“ und der Fernsehkanal SVT in einer Dokumentation die Geschichte von damals noch einmal auf.
Der Neurowissenschaftler Rickard Sjöberg von der Universität Umeå kritisierte in der Dokumentation die Methoden der Polizei als äußerst unsauber. Seit 1998 waren immer mehr Teile der Polizeiuntersuchung veröffentlicht worden, unter anderem auch die Verhörmethoden, die die Beamten bei dem damals 5-jährigen Robin angewendet hatten. Das Material zeigte jedoch weder ein aufgezeichnetes Geständnis des Jungen noch sonstiges Beweismaterial, das ihn belastet hätte.
Immer wieder waren die beiden Jungen befragt worden, oftmals ohne dass deren Eltern oder ein Rechtsbeistand dabei anwesend gewesen war. Sie wurden mit Strafen bedroht oder ihnen wurden Belohnungen angeboten – je nachdem, wie sie auf die Fragen der Beamten antworteten. Um die 30 Mal mussten die Kinder auf die Polizeistation kommen, bis sie schließlich sagten, Kevin getötet zu haben.
Doch damit nicht genug. Das Material legt auch nahe, dass die beiden Brüder zur Zeit von Kevins Tod gar nicht in der Nähe des Tatorts gewesen waren.
Als die Dokumentation ausgestrahlt wurde, schlug sie hohe Wellen. Nur wenige Tage später verkündete die Staatsanwaltschaft, dass der Fall Kevin neu aufgerollt werde.
Robin und Christian, heute beide erwachsene Männer, haben keinerlei Erinnerung mehr an den verhängnisvollen Augusttag vor fast 20 Jahren. Sie glauben beide, dass sie Kevin nichts angetan haben – aber nach all dem Geschehenen können sie nie mehr völlig sicher sein, was man ihnen über die gesamte Zeit hinweg eingeredet hat oder was wirklich passiert ist.
Sie wissen nur noch, dass sie Angst hatten, dass sie weinten, dass sie zu ihre Mutter wollten, die Polizisten sie aber nicht gehen ließen.
„Es gibt niemanden auf der Welt, der verstehen könnte, was wir durchgemacht haben, wie wir uns gefühlt haben und wie schrecklich es war“, sagt Robin.
Am 27. März 2018 verkündete die Staatsanwaltschaft, dass alle Vorwürfe gegen Robin und Christian haltlos seien und fallengelassen würden. Kevins Tod sei wahrscheinlich kein Mord, sondern ein Unfall gewesen – aber wie genau der kleine Junge gestorben ist, das lässt sich heute nicht mehr feststellen.
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll“, gesteht Kevins Vater den Zeitungen. „Es ist, als würde ich jetzt noch einmal in ein dunkles Loch hinunterstürzen. Hätte die Polizei 1998 ihre Arbeit gemacht, dann wären wir jetzt nicht alle in dieser Situation.“
Eine Zusammenfassung der Tragödie kann hier im Video gesehen werden (auf Englisch):
Weil die Beamten von damals glaubten, die Wahrheit bereits zu kennen, haben sie gleich zwei Familien für immer schweren Schaden zugefügt – und dabei zugleich verhindert, dass jemals ans Licht kommt, was dem kleinen Kevin an diesem Sommertag vor 20 Jahren wirklich zugestoßen ist.