Es ist die Geschichte eines Verbrechens. Und eines Dorfes, das dieses Verbrechen am liebsten für immer verschwiegen hätte. Fast wäre es ihm gelungen – hätte nicht ein Parkettleger das dunkle Geheimnis unter dem Fußboden des angrenzenden Schlosses für die Nachwelt aufbewahrt.
Die Geschichte ereignet sich Ende des 19. Jahrhunderts. Abgelegen an den steilen Hängen der französischen Alpen erhebt sich das kleine Schloss Château de Picomtal über das ärmliche Dorf Crots. Die Eisenbahn, die das Dorf mit dem Rest des Landes verbinden soll, wird erst noch gebaut.
Doch die Umbrüche, die mit der Moderne einhergehen, sind schon überall greifbar: Die Lebensmittelpreise explodieren und bringen die Bevölkerung in Not; die jungen Leute wandern ab. Zurück bleibt eine drückende Atmosphäre zwischen Hass, Neid und der Sehnsucht nach Glück.
Geheimnisse unter dem Parkett
Da erhält der 38-jährige Schreiner Joachim Martin den Auftrag, das Parkett im Schloss neu zu verlegen. Joachim erblickt die Chance, über das zu berichten, worüber im Dorf jeder Bescheid weiß, aber niemand sprechen will.
„Glücklicher Sterblicher!“, notiert er, „Wenn du das liest, werde ich nicht mehr sein.“ Es ist aber kein Brief und auch kein Tagebuch, worauf Joachim diese Zeilen festhält. Es ist die Rückseite der Holzbretter, die er gerade kunstvoll auf dem Boden zusammenfügt. Joachim ist sich sicher: Bis dieser Parkettboden erneuert wird, ist er längst tot. Umso offenherziger kann er Zeugnis davon ablegen, was im Dorf vor sich geht.
Tatsächlich werden seine Aufzeichnungen erst im Jahr 2000 entdeckt, als größere Restaurierungsarbeiten im Château de Picomtal anstehen. Seither wurden 72 mit Bleistift beschriebene Holzstücke gefunden; 4.000 Wörter, die Ungeheuerliches bergen.
„Im Jahre 1868 ging ich mitternachts an einem Stall vorbei. Ich hörte Stöhnen. Es war die Mätresse meines Kindheitsfreundes, die ein Baby bekam“, ist auf einem Brett zu lesen – und: dass der Stall sogleich das Grab des Babys werden wird.
Benjamin, der frühere Freund des Parkettlegers, tötet den unehelichen Nachwuchs mit eigenen Händen. Aber dabei wird es nicht bleiben. Im Lauf der Jahre bringt Benjamins Geliebte sechs Kinder zu Welt, von denen der Erzeuger vier im Stall verscharrt.
Joachim ist geschockt, kann seine Beobachtung jedoch niemandem offenbaren: Die Mutter des Jugendfreundes ist zugleich die Geliebte seines eigenen Vaters. Außerdem ist der wiederholte Kindsmord ohnehin im ganzen Dorf bekannt. Man spricht nur nicht darüber.
Wie man über so vieles nicht spricht. Heimliche Affären sind im Dorf an der Tagesordnung. Selbst als der Kindsmörder Benjamin auch noch Joachims Frau verführt, bleibt Joachim nichts übrig, als seinen Ärger herunterzuschlucken.
Erst im Schloss, als er die Bretter des Parketts zuschneidet, kann er darüber berichten. Joachim schreibt aber nicht nur über den Kindsmord, sondern über all die Dinge, die ihm im Dorf bitter aufstoßen.
Da wäre zum Beispiel der Priester des Dorfes. Dieser labt sich daran, im Beichtstuhl die intimsten Details auszuhorchen – wie oft, mit wem und in welchen Positionen die Leute Sex haben; was wen befriedigt usw. Nicht zuletzt ist der Priester ein unfähiger Quacksalber, der Schuld daran hat, dass einer von Joachims Söhnen sein Auge verlor. „Das Schwein soll hängen!“, wütet der Parkettleger.
Allerdings gibt Joachim zu, selbst ebenfalls kein Unschuldslamm gewesen zu sein. Für die Nachwelt hält er fest: „Seid weiser, als ich es im Alter zwischen 15 und 25 gewesen bin, als ich für nichts anderes lebte als für den Alkohol, nichts tat und viel verschleuderte.“
Mit seinen ehrlichen Aufzeichnungen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, hat der Parkettleger aus Crots ein einzigartiges Zeitdokument hinterlassen. Was mehr als hundert Jahre unter dem Fußboden im Château de Picomtal versteckt lag, gewährt einen tiefen Einblick in das schwierige Leben und die teils dunklen Geheimnisse einer innerlich zerrissenen Landbevölkerung im 19. Jahrhundert.
Heute ist das Château de Picomtal ein wundervolles Hotel. Welche weiteren Geheimnisse sich unter dem Parkett befinden, ist unklar. Denn bislang ist bloß ein Teil des Fußbodens erneuert worden. Man darf also gespannt sein, was Joachim Martin noch alles zu erzählen wusste.
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