Jeden Tag verschwinden Kinder spurlos. Manchmal werden sie von Menschen entführt, die sie nicht kennen. Aber in den meisten Fällen ist jemand aus ihrem engsten Umfeld für das Verschwinden verantwortlich.
Früher sah man die Fotos vermisster Leute häufig auf Aushängen. Doch nicht jeder nimmt sich die Zeit, sich im Vorbeilaufen die Gesichter auf den Suchplakaten genau anzusehen. In den USA kamen die Polizei und die Familien der Vermissten in den frühen 1980ern schließlich auf eine ebenso simple wie geniale Idee: Die Fotos verschwundener Kinder wurden auf Milchtüten gedruckt.
Die meisten Menschen kaufen Milch, fast jeder hat stets einen Milchkarton in seinem Haushalt. Am Frühstückstisch haben die Menschen Zeit und Ruhe, die Bilder der Vermissten genau zu studieren. Wenn man sie jeden Morgen direkt vor Augen hatte, prägen sich die Fotos und die Beschreibungen der Kinder beim Betrachter ein.
In den USA wurden etwa 5 Milliarden solcher Milchkartons mit den Fotos verschwundener Kinder bedruckt. Aber bestimmt hat niemand damit gerechnet, dass einmal eines der entführten Kinder sich selbst darauf erkennen wird.
Sie wusste nicht, dass sie entführt worden war
Bonnie Lohman war erst drei Jahre alt, als ihre Mutter und ihr Stiefvater sie aus der Obhut des Vaters nahmen und mit dem Kind flüchteten. Bonnies Vater, der das alleinige Sorgerecht hatte, meldete sie als entführt und ihr Vermisstenfoto wurde über die Milchkartons verbreitet.
Bonnie wuchs mit Eltern auf, die sehr oft umzogen und mit ihr unter anderem auf den Inseln Saipan und Hawaii lebten. Sie wusste nicht, dass ihre Mutter und der Mann, den sie für ihren Vater hielt, auf der Flucht vor der Polizei waren.
Bonnie durfte nicht wie andere Kinder draußen spielen. Sie wurde nicht zur Schule geschickt, denn das hätte zu viele Fragen von Lehrern und Behörden bedeutet. Erst nach und nach durfte sie die Nachbarskinder besuchen, um mit ihnen zu spielen.
Warum ist mein Bild auf der Milch?
Eines Tages, als Bonnie Lohman sieben Jahre alt war, begleitete sie ihren Stiefvater im US-Bundesstaat Colorado in den Supermarkt. Vor dem Kühlregal mit der Milch sah sie plötzlich ein Foto von sich selbst.
Bonnie hatte nie Lesen gelernt. Sie konnte nicht wissen, dass unter dem Bild von ihr in großen Buchstaben das Wort „VERMISST“ stand. Sie war fasziniert von ihrem Foto und fragte ihren Stiefvater, ob sie die Tüte behalten dürfe.
Er erlaubte ihr, das Foto aus dem Karton auszuschneiden und zu behalten, schärfte ihr aber ein, dass sie es niemandem zeigen dürfe. Sie bewahrte es bei ihren Spielsachen auf.
Doch als sie eines Tages ihren Beutel mit dem Spielzeug und dem Foto bei den Nachbarskindern vergaß, fanden es die Eltern ihrer Freunde. Sie erkannten die Vermisste auf dem Foto und riefen die Polizei.
Bonnie Lohman wurde zu ihrem Vater zurückgebracht. Nach all den Jahren erkannte sie ihn jedoch zunächst nicht wieder. Das Mädchen brauchte eine Weile, um wieder eine Bindung zu ihm aufzubauen und zu verstehen, was in ihrer Kindheit geschehen war.
„Ich wurde nicht von Fremden entführt“, so Bonnie später. „Ich wurde von Menschen entführt, die mich liebten.“
Ende der 1990er wurde die Milchkarton-Initiative eingestellt und durch das Informationssystem AMBER ersetzt, mit dem Suchmeldungen über Radio und Verkehrsinformationstafeln gesendet werden. Bonnies Geschichte bleibt einer der sehr seltenen Fälle, in denen das vermisste Kind auf dem Milchkarton lebend gefunden werden konnte.
Quelle: unbelievablefacts
Vorschaubild: ©Twitter/juli