Als der 31-jährige Jason Padgett am 13. September 2002 nach einem Besuch in einer Karaoke-Bar auf dem Heimweg war, wurde er von zwei Männern überfallen, die ihn nicht nur ausraubten, sondern auch brutal zusammenschlugen, sodass er eine schwere Gehirnerschütterung erlitt und bewusstlos wurde. Dieser Vorfall hinterließ bei dem jungen Mann nicht nur diverse Narben und ein schweres Trauma, sondern er sieht seit seiner Kopfverletzung in alltäglichen Dingen geometrische Formen, die vorher nicht da waren.
Jason, der aus Tacoma im US-Bundesstaat Washington stammt, hatte sich vor dem Unfall nie für wissenschaftliche Themen interessiert. Anstatt zur Uni zu gehen, arbeitete er lieber in dem Möbelgeschäft seiner Eltern und genoss das unbeschwerte Leben, indem er in der Freizeit mit seinem Sportwagen durch die Gegend fuhr, regelmäßig in Kneipen ging und zahlreiche Frauen aufriss. Heute beschreibt Jason sein damaliges Leben wie folgt: „Ich war ein Kind, das sagt: ‚Was bringt es mir, Mathematik zu studieren?'“
Nach dem Unfall änderte sich Jasons Leben jedoch komplett: „Ich begann, in allem Muster zu sehen, denn alles bestand plötzlich aus komplexen geometrischen Figuren, Gittern und Fraktalen – das sieht einfach wunderschön aus.“ Obwohl sich Jason zuvor nie für Mathematik interessiert hatte, begeisterte er sich nun für diese Wissenschaft und begann, diese genauestens zu studieren. Darüber hinaus konnte er plötzlich erstaunlich gut zeichnen und verblüfft bis heute mit perfekten geometrischen Darstellungen.
Dieses ungewöhnliche Phänomen wird in der Medizin als Savant-Syndrom bezeichnet, bei dem die Betroffenen infolge einer schweren Hirnschädigung erstaunliche geistige Fähigkeiten entwickeln.
Aufgrund dieses Phänomens vermuten einige Wissenschaftler sogar, dass in jedem Mensch ein Genie stecken könnte; daher suchen sie fieberhaft nach einem Weg, dieses verstecke Potential zu entschlüsseln.
„Um den Ausfall von verletzten Hirnarealen zu kompensieren, werden offenbar unbeschädigte und bis dato ungenutzte Bereiche des Gehirns aktiviert, in denen sich unbekanntes Potential verbergen kann, welches sich erst durch die Inanspruchnahme entfaltet“, so der Psychiater Darold Treffert, der sich seit über 50 Jahren intensiv mit dem Savant-Syndrom beschäftigt.
Untersuchungen zufolge haben die meisten Menschen, die nach einer schweren Kopfverletzung unter dem Savant-Syndrom leiden, Hirnschäden an der Vorderseite des linken Temporallappens erhalten. Durch diese Beobachtungen vermuten Forscher, dass sich savantartige Fähigkeiten durch eine Betäubung dieses Hirnareals gezielt aktivieren lassen.
Um herauszufinden, ob sich die Vermutung der Forscher bestätigen lässt, wurden an der Universität von Sydney in Australien mehrere Studien durchgeführt, in denen die Region des linken Temporallappens durch magnetische Impulse blockiert wurde, was nachweislich die künstlerischen Fähigkeiten, Zahlenfertigkeiten und das Gedächtnis einiger Teilnehmer verbesserte.
Magnetstimulation ist jedoch nur ein Weg, um verstecktes Potential zu entschlüsseln. „Eine andere Möglichkeit wäre, es durch Medikamente auszulösen“, so Treffert. „Amphetamine könnten dafür sehr hilfreich sein, allerdings machen sie sehr schnell süchtig.“
“Ich glaube, dass es in uns allen ein verborgenes Potenzial gibt, und ich denke, wir könnten das in gewisser Weise nutzen“, fügt er hinzu. „Aber nicht in allen Menschen versteckt sich das gleiche Potential. Es würde sicher das ein oder andere Genie entdeckt werden, aber wir sind nicht alle Rembrandts oder Picassos, sodass die Gefahr falscher Hoffnungen besteht.“
Jason begann nach seiner Verletzung, komplexe Mathematik intuitiv zu verstehen, doch er hat noch immer mit den Folgen des Überfalls zu kämpfen, denn er leidet unter schweren Angstzuständen. Nichtsdestotrotz möchte der heute 48-Jährige diese schicksalhafte Nacht nicht missen, denn im Nachhinein betrachtet hat sie seinem Leben einen neuen Sinn gegeben und ihn zu dem Mann gemacht, der er heute ist: ein leidenschaftlicher Künstler und Mathematiker.