Dass Kinder ein schweres Verbrechen begehen können, ist an sich schon eine schreckliche Vorstellung. Dass sich niemand dafür interessiert, warum sie so etwas tun, und wie es dazu kommen konnte, ist sogar noch schlimmer. Curtis und Catherine Jones aus Port St. John in Florida (USA) sind ein zugleich grausiges und todtrauriges Beispiel für das Versagen der Justiz im Angesicht menschlichen Elends.
An einem kalten Januarabend im Jahr 1999 sitzt die 29-jährige Sonya Speights an ihrem Küchentisch und legt ein Puzzle. Sie ahnt nichts Böses, als der 12-jährige Curtis, der Sohn ihres Lebensgefährten, im Türrahmen erscheint. Da hebt der kleine Junge mit zitternden Händen eine halbautomatische Handfeuerwaffe und drückt neunmal ab. Vier Schüsse treffen die Lehrerin in die Brust und sie bricht tot zusammen.
Die beiden Kinder unternehmen einen unbeholfenen Versuch, das Verbrechen zu verschleiern. Sie schleifen Sonyas leblosen Körper ins Badezimmer und legen ihn in die Badewanne. Dann versuchen sie vergeblich, die breite Blutspur mit Bleichmittel aus dem Teppich herauszuschrubben.
Als ihre Bemühungen nichts bringen, rennen sie nach nebenan zu den Nachbarn und erzählen dort, sie hätten Sonya versehentlich erschossen. Doch noch bevor die Polizei eintreffen kann, verlieren die Kinder völlig die Nerven und flüchten zusammen in die nahen Wälder, wo sie sich verstecken. Die Beamten finden die beiden wenige Stunden später, halb erfroren und verängstigt.
Während der ersten Befragungen geben die Kinder nicht nur den Mord zu, sie liefern auch schnell ein eiskaltes und grausiges Motiv: Ihr Vater habe Sonya zu viel seiner Aufmerksamkeit geschenkt, darum hätten sie die Frau aus Eifersucht ermordet.
Besonders Catherine erschreckt die Beamten mit ihrer kühlen, distanzierten Art. Sie war es gewesen, die das mörderische Vorhaben geplant hatte, ihr kleiner Bruder hatte nur ihre Anweisungen befolgt.
Obwohl das panische Verhalten der Kinder direkt nach der Tat nicht mit ihrem ruhigen und abgeklärten Benehmen im Verhörzimmer zusammenpasst, wird sehr schnell Anklage gegen beide erhoben – und zwar nach Erwachsenenstrafrecht. Gegen den Protest ihrer Angehörigen und sogar der Familie des Mordopfers stehen die Kinder nur Wochen später wegen vorsätzlichen Mordes vor Gericht. „Das sind keine ahnungslosen Kinder“, rechtfertigt der Staatsanwalt sein Vorgehen gegen einen 12- und eine 13-Jährige. „Sie kannten den Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Sie haben einen Mord begangen.“
Nach dem geltenden Jugendstrafrecht hätten sie höchstens zu drei Jahren Gefängnis verurteilt werden können, doch so kommt alles anders. Ohne dass je ein voller Prozess stattfand, ohne dass jemals Beweise vorgelegt oder Zeugen angehört wurden, wird den Kindern ein Handel vorgeschlagen, den sie annehmen. Sie bekennen sich schuldig und werden wegen Totschlags zu je 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Geschwister werden ebenso schnell weggesperrt, wie sie verurteilt wurden, und verschwinden aus dem Blick der immer noch geschockten Öffentlichkeit.
Erst 10 Jahre später stöbert eine Tageszeitung Dokumente auf, die belegen, dass das Zuhause der Kinder zum Zeitpunkt des Mordes eine wahre Hölle gewesen sein muss. Curtis hatte seiner Mutter, die vom Vater getrennt lebte, bereits 1994 erzählt, dass ein Verwandter des Vaters ihm sexuelle Gewalt angetan habe. Die Mutter schaltete die Polizei ein, aber Curtis war zu eingeschüchtert, um bei seiner Aussage zu bleiben, und behauptete schnell, sich alles nur ausgedacht zu haben. Die Ermittlungen wurden eingestellt und die Kinder blieben bei ihrem Vater.
Zwei Jahre später kam Curtis mit einem geschwollenen, zerschlagenen Gesicht zur Schule, doch wieder wurde nicht weiter ermittelt, und die Kinder blieben in der Gewalt ihres Vaters.
1998, nur Monate vor dem Mord, rannte Catherine von zuhause fort. Ihre Lehrer hatten bereits dem Jugendamt ihre Sorge mitgeteilt, dass das Mädchen sexuell missbraucht werde. Wieder war der Täter der Verwandte des Vaters, der immer noch freien Zugang zu den Kindern hatte. Catherine erzählte ihrem Vater, was der Mann ihr antat, aber dieser glaubte ihr nicht und schüchterte das Mädchen so sehr ein, dass sie den Behörden gegenüber das Erlittene abstritt. Wieder wurde die Akte geschlossen.
Der Täter wohnte mit der Familie in einem Haus und der Missbrauch ging einfach ungehindert weiter. Catherine hatte in ihrer Not nur einen Verbündeten, denn ihr kleiner Bruder glaubte ihr, was sie durchmachte. Gemeinsam beschlossen die Geschwister in ihrer Verzweiflung und hilflosen Wut, dass die Erwachsenen, die sie nicht beschützten, dafür bezahlen würden.
Als am Abend des 6. Januars der Vater der Kinder kurz aus dem Haus ging und der verhasste Onkel erst spät heimkommen würde, setzten die beiden ihren Plan in die Tat um. Sonya Speights sollte als Erste sterben. Doch als Curtis die tödlichen Schüsse auf sie abgefeuert hatte, wurde aus dem wilden Racheplan plötzlich schreckliche Realität. Der Junge brach weinend zusammen und auch seine Schwester stand unter Schock. Anstatt auf die anderen Erwachsenen zu warten und diese auch zu ermorden, gerieten die Kinder in Panik.
Als sie festgenommen wurden, sprach keiner von beiden über die Gewalt, die sie seit Jahren hatten ertragen müssen. Kein Erwachsener hatte ihnen jemals geglaubt oder geholfen, wenn sie in der Vergangenheit davon erzählt hatten, warum also sollte es diesmal anders sein? Sie vertrauten sich niemandem mehr an.
Die Behörden wussten natürlich von den vergangenen Ermittlungen, da diese aber alle ergebnislos beendet worden waren, schenkte niemand den Akten weitere Beachtung.
10 Jahre später, als Journalisten die inzwischen jungen Erwachsenen im Gefängnis interviewten, sprach Catherine endlich von ihrer Vergangenheit. Es tue ihr leid, dass sie von allen Beteiligten ausgerechnet Sonya getötet hätten, statt ihre Wut auf den eigentlichen Täter zu konzentrieren. Das Gefängnis sei für sie eine Erleichterung gewesen, ein Ort, an dem er ihr nichts mehr habe antun können.
Der verantwortliche Staatsanwalt steht auch heute noch zu seiner Entscheidung, die Kinder nach dem Erwachsenenstrafrecht belangt zu haben. Sie hätten einen vorsätzlichen Mord begangen und es sei nur rechtens, dass sie sich dafür auch hätten verantworten müssen.
Im Sommer 2015 wurden beide Geschwister schließlich aus dem Gefängnis entlassen. Catherine war 30, Curtis 29 Jahre alt, sie haben seit Jahren nicht mehr miteinander kommunizieren dürfen. Sie werden für den Rest ihres Lebens auf Bewährung in Freiheit sein und jeder weitere Konflikt mit dem Gesetz kann dazu führen, dass sie zurück hinter Gitter müssen.
Was für ein schreckliches Versagen aller beteiligten Behörden. Hätten sie früher eingegriffen, wäre es nie zu diesem furchtbaren Januarabend gekommen – und zwei junge Menschen hätten die Hilfe erhalten, die sie brauchten, statt ihre gesamte Jugend außerhalb der Gesellschaft eingesperrt zu verbringen. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr Leben in Freiheit ein besseres sein wird, und dass sie die Dämonen ihrer Kindheit hinter sich lassen können.