Die kleine Waris Dirie wurde um 1965 in der Wüste Somalias geboren. Als Tochter in einer muslimischen Nomadenfamilie hatte sie weder einen festen Wohnsitz, noch erhielt sie medizinische Versorgung durch einen qualifizierten Arzt. In Somalia ist die Infibulation, also die Genitalverstümmlung, bei Mädchen im Kleinkindalter eine gängige Praxis. Als Waris‘ Mutter ihre Tochter eines Tages zu einem Medizinmann brachte, um sie beschneiden zu lassen, ahnte die damals 5-Jährige noch nichts von ihrem Schicksal.
Die Infibulation bei Frauen, auch pharaonische Beschneidung genannt, wird vorgenommen, um Geschlechtsverkehr und Selbstbefriedigung zu verhindern. Dabei werden die äußeren Genitalien mit anschließender Verengung der Vaginalöffnung abgeschnitten.
Da in der Wüste weder die Hygienebedingungen optimal sind und auch die Medizinmänner nicht über ausreichende Fachkenntnis verfügen, sterben viele kleine Mädchen bei dieser Prozedur am hohen Blutverlust bzw. einer darauffolgenden Infektion oder Blutvergiftung. Waris überlebte den Eingriff glücklicherweise, litt jedoch seit diesem Zeitpunkt unter ständigen Schmerzen.
Als sie 14 Jahre alt wurde, wollte Waris‘ Vater sie an einen alten Mann verheiraten. Voller Angst floh Waris zu Fuß durch die Wüste und erreichte Somalias Hauptstadt Mogadischu, wo sie bei Verwandten ihrer Mutter leben durfte. Zwei Jahre später schickte man das erst 16 Jahre alte Mädchen weiter nach London. Einer ihrer Onkel war dort zu dieser Zeit somalischer Botschafter und suchte ein Dienstmädchen. Ohne Bezahlung musste sie ab jetzt in der Botschaft schuften.
Doch kurze Zeit später brach in Somalia der Bürgerkrieg aus und ihr Onkel musste London verlassen. Die junge Waris flüchtete erneut aus ihrem Zuhause und lebte zuerst als Obdachlose in den Straßen Londons, bevor sie dann in einem Heim des YMCA, des Christlichen Vereins Junger Menschen, unterkam. Ihren Lebensunterhalt verdiente Waris sich als Reinigungskraft in einem Fastfood-Restaurant.
Dann, als sie 18 Jahre alt wurde, veränderte ein Zufall Waris Schicksal nachhaltig: Sie war gerade auf der Arbeit, als ein Gast, ein gepflegt wirkender Herr, der dort seinen Burger aß, die junge Frau ansprach. Es handelte sich um den englischen Fotografen Terence Donovan, der von ihrem Gesicht fasziniert war und ihr anbot, von ihr Fotos zu machen.
Wikimedia/Terence Donovan/Darren S Feist/CC BY-SA 3.0
Von da an ging alles ganz schnell. Waris wurde Model im heißbegehrten Pirelli-Kalender und bekam bald die Möglichkeit, für Weltmarken wie Chanel, L’Oréal, Revlon, Versace, Cartier und Levi’s zu arbeiten. Doch auf dem Gipfel ihres Erfolgs besann sich Waris ihrer Herkunft. In einem ergreifenden Interview erzählte sie 1997 von dem Trauma ihrer Beschneidung und von dem Leid, das diese mit sich gebracht hatte.
Waris wollte nicht mehr nur das berühmte Model sein, das es aus der somalischen Wüste auf die Cover großer Modezeitungen gebracht hatte. Sie wollte fortan die kleinen Mädchen in ihrer Heimat vor dem Schicksal der Beschneidung bewahren. Also gründete sie eine Stiftung, die „Desert Flower Foundation“ (sowohl „Desert Flower“ als auch der somalische Vorname der jungen Frau, „Waris“, bedeuten auf Deutsch „Wüstenblume“).
„Wüstenblumen“ nennt die Stiftung auch alle Mädchen, die von der Beschneidung bedroht sind. Auf Waris‘ Facebookseite steht: „Alle 11 Sekunden wird ein Mädchen in der Welt beschnitten. Jedes dritte Mädchen stirbt als Folge der Genitalverstümmlung, und viele leiden ein Leben lang unter dem physischen und psychischen Trauma. Mit der Gründung der ‚Desert Flower Foundation‘ im Jahr 2002 haben wir diesem grausamen Ritual den Krieg erklärt.“
Waris Dirie hat mehrere Bücher über ihr Leben geschrieben, das erste, ebenfalls „Wüstenblume“ betitelt, wurde bereits verfilmt. Ihrer Familie gibt sie keine Schuld daran, beschnitten worden zu sein, sondern der mangelnden Bildung. Mit ihrer Stiftung will sie dafür sorgen, dass die Eltern darüber aufgeklärt werden, dass die Prozedur nicht nur tödlich sein kann, sondern auch vollkommen überflüssig ist.